Musikmärchen

Als Musikmärchen werden vorrangig Vertonungen von Märchenstoffen bezeichnet. Die Bezeichnung wird auch für Märchen verwendet, die von Musik handeln. In einigen Fällen treffen beide Charakteristika zu, wenn ein von Musik handelndes Märchen vertont wurde.

Humperdinck mit Hänsel und Gretel

Vertonungen von Märchenstoffen

Tabaluga in Erfurt

Musikmärchen sind keine eigene Musikgattung im engeren Sinne, sondern eine beschreibende Bezeichnung für Vertonungen von Volks- oder Kunstmärchen sowie anderen märchenhaften Stoffen. Sie finden sich in unterschiedlichen Genres und musikalischen Formen wie der klassischen und romantischen Märchenoper, dem Singspiel, der Märchenkantate, als Ballettmusik, Fantasie und Sinfonische Dichtung. Auch sind, insbesondere in der Absicht, anspruchsvolle Musik für Kinder zu schaffen, neue kompositorische Formen geschaffen worden, in denen Musik und Erzählung abwechseln, wie in dem bekannten Werk Peter und der Wolf. Bekannt sind auch die modernen Werke aus dem Bereich der Rock- und Popmusik wie die Musikmärchen von Rolf Zuckowski, Tabaluga mit Peter Maffay und das Musikmärchen Wolke 7 von Stefan Waggershausen.

Im Hinblick auf die verwendeten Stoffe lässt sich zwischen den Märchengattungen Volksmärchen, Kunstmärchen und eigens für die Komposition geschaffenen, märchenhaften Stoffen unterscheiden. Teilweise wurden Musikmärchen zur Heranführung von Kindern an anspruchsvolle musikalische Werke genutzt, wie Hänsel und Gretel, die auch als Kinderoper bezeichnet wurde. Die Eignung dafür hängt vom jeweiligen Stoff, der musikalischen Komposition, der Aufführungsform und dem Alter der Kinder ab. Deutlich an Kinder gerichtet sind die genannten Musikmärchen der Rock- und Popmusik sowie Werke, die explizit so komponiert wurden, dass sie auch von Kindern aufgeführt werden können wie die Kinderoper Brundibár des deutsch-tschechischen Komponisten Hans Krása, die er 1938 komponierte und die 1941 im jüdischen Kinderheim in Prag aufgeführt wurde. Andere Märchensingspiele aus dem pädagogischen oder therapeutischen Kontext stammen von Ingo Bredenbach, Eberhard Werdin und Paul Nordoff. Von den Musikmärchen abzugrenzen sind Stoffe, die der Gattung der Legende und Sage zuzuordnen sind, wie Sadko, Das Märchen von der schönen Melusine oder Der fliegende Holländer und viele andere Stoffe vor allem der großen Opern der Romantik. Eine Sonderstellung nimmt die Mozart-Oper Die Zauberflöte ein, die es in einer Vielzahl unterschiedlicher Fassungen, Umformungen und Aufführungsweisen gibt und die verschiedene Ebenen des Verstehens ermöglicht.

Vertonungen von Volksmärchen

Bühnenbildentwurf für Carl Orffs Die Kluge von Helmut Jürgens (München 1948)

Vertonungen von Kunstmärchen

Bühnenbildentwurf zu Igor Strawinskys Le rossignol von Alexandre Benois (1914)

Kompositionen märchenhafter Stoffe

Max Slevogt: Szene aus der Zauberflöte

Märchen, die von Musik handeln

Von Musik handelnde Märchen finden sich verstreut in vielen Märchensammlungen, ebenso in Volks- wie auch in Kunstmärchen und in den verschiedenen Sprachen und Kulturen. Eine Häufung von Märchen mit Musik findet sich bei den Märchen der Sinti und Roma sowie in den Feenmärchen (S. 166).[2] Dabei kann die Musik den Hauptstrang der Erzählung darstellen, aber auch einfach der Beruf des Protagonisten sein oder nur in einzelnen Szenen vorkommen. Abzugrenzen von den Märchen sind Mythen, die von Musik handeln, wie z. B. die griechischen Mythen Orpheus, Pan und Syrinx und Sagen und Legenden, die von Musik oder Musikern handeln.[3]

Musikmärchensammlungen

Rudolf Schiestl: Spielmann und Prinzessin

1984 erschien eine erste deutschsprachige Zusammenstellung von Musikmärchen unter dem Titel Wo die Flöte ertönt, herausgegeben von Johann Friedrich Konrad.[4] Sie enthält einige europäische Zaubermärchen wie z. B. das irische Märchen O'Donoghues Dudelsack und das polnische Märchen Die Geige, die vom Himmel fiel und einige Kunstmärchen wie Die künstliche Orgel von Richard von Volkmann-Leander. Unter dem Titel Musikmärchen stellte der Märchenforscher Leander Petzoldt 1994 für die Reihe Märchen der Welt eine weitere Sammlung mit 28 europäischen Volksmärchen vor, in denen Musik eine zentrale Rolle spielt. Sie hat ihren Schwerpunkt auf deutschsprachigen Zaubermärchen, viele aus den Märchensammlungen der Brüder Grimm und Ludwig Bechstein, enthält aber auch Zaubermärchen aus Irland, der Slowakei, Griechenland, Sizilien und ein Roma-Märchen.[5] Eine weitere Sammlung erschien 2001 unter dem Titel Glöckchen, Trommel, Zaubergeige. Musikmärchen aus aller Welt, herausgegeben von Dorothée Kreusch Jacob[6], die neben europäischen Märchen auch solche aus Mexiko, Japan, China und Afrika enthält. Neben Volksmärchen sind auch einige Kunstmärchen aufgenommen. Eine Liste von über 300 europäischen Volksmärchen, in denen Musik vorkommt, findet sich bei Rosemarie Tüpker in dem Buch Musik im Märchen (S. 292–308).[2]

Auch einige außereuropäische Märchen, die von Musik handeln, sind in deutscher Sprache erschienen, so z. B. das japanische Märchen Das Glöckchen, welches alle Menschen, die es hören, glücklich macht[6] und das buddhistische Märchen Guttila, der Musiker, in welchem der Schüler eines Vina-Meisters diesen zu übertrumpfen versucht. Der Meister und Bodhisattva erhält aber übersinnliche Hilfe, kann nun auch mit zerrissenen Saiten noch schöne Töne erklingen lassen, was dem Schüler nicht gelingt, und lernt darüber hinaus durch sein vortreffliches Spiel die Götterwelt und das Prinzip des Karmas kennen.[7] In der Sammlung von Märchen aus Burma findet sich das Märchen Der Junge mit der Harfe, in dem ein Junge zunächst seine Mutter mit seinem musikalischen Können unterstützt, bis er von den Göttern mit einem üblen Trick auf den Inseln festgehalten wird, weil sie auf die Schönheit seines Spiels nicht verzichten möchten.[8]

Motivik

Ein im gesamten europäischen Erzählraum häufig vorkommendes Märchenmotiv ist das zum Lohn geschenkte Musikinstrument, welches die Zauberkraft hat, die Menschen zum Tanzen zu bringen wie in den Grimmschen Märchen Der liebste Roland. Die von höheren Wesen oder vom Teufel geschenkten Instrumente sind oft eine Flöte oder Geige, können aber auch eine Harfe, ein Dudelsack oder eine Klarinette sein (S. 177–188).[2] Die Redewendung „nach seiner Pfeife tanzen“ verweist auf diese Vorstellung und ist auch als Märchentitel in der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen bei Theodor Vernaleken zu finden: Sie tanzen nach der Pfeife.[9]

Andere Instrumente und das aus ihnen oft von selbst klingende Lied werden zum Zeugen eines meist längst vergangenen Verbrechen, wie dies auch in den beiden Märchen der Fall ist, die das Vorbild zu Mahlers Märchenkantate Das klagende Lied wurden. Auch dieses Motiv findet sich im gesamten europäischen Erzählraum. Oft sind die Instrumente aus einem Teil des Körpers des Menschen gemacht, der dem Verbrechen zum Opfer fiel, etwa eine Knochenflöte. In dem Märchen Von dem Machandelboom ist es ein singender Vogel, der das Verbrechen verrät (S. 251–263).[2]

Musik kann emotional anrühren wie in dem Romamärchen Die Erschaffung der Geige. Weitere Beispiele sind das österreichische Märchen Das Ewige Lied und das russische Märchen Der Zaubermusikant. (S. 193–204)[2][10] Musik kann zum Objekt der Sehnsucht werden und weitere Entwicklungen auslösen wie in den Märchen Die singende Besenbindertochter aus Mecklenburg oder dem Rommärchen Der König und der arme Čhavo (S. 225).[2] Das kann auch eine gefährliche Form haben wie in den vielen Märchen, in denen die Helden von Nixen oder Feen durch deren schöne Musik ins Verderben gerissen werden (S. 239).[2] Musik verbindet die Welt der Menschen mit den Anderswelten, wie dies in vielen Feenmärchen oder in dem Grimmschen Märchen Dat Erdmänneken erzählt wird. Manchmal steht die Musik dann auch für das Fremde, dessen es sich zu entledigen gilt, wie in dem Grimmschen Märchen Der kleine Sackpfeifer. Oft ist dies verbunden mit dem Motiv des Wechselbalgs. Manche Märchen erzählen auch von der Fähigkeit der Hirten durch ihr Flötenspiel, die Tiere zusammenzuhalten oder gefährliche Tiere zu besänftigen, wie z. B. in dem französischen Märchen Die nächtlichen Abenteuer eines Musikanten (S. 199).[2] Märchen können eng mit der Identität des Helden verbunden sein, wie dies auch die Märchen erzählen, in denen der Protagonist durch sein Instrument erst zu sich selbst findet, wie in den Grimmschen Märchen Das Eselein oder schlicht der Beruf oder Gelderwerb des (dann meist eher armen) Protagonisten sein.

Volksmärchen (Auswahl)

Illustration von Oskar Herrfurth

Kunstmärchen (Auswahl)

Einzelnachweise

  1. Oliver Kolb, Veröffentlichungen
  2. a b c d e f g h Rosemarie Tüpker Musik im Märchen. Reichert Verlag, Wiesbaden 2011
  3. siehe: Lutz Röhrich: Musikmythen. Die Musik in Geschichte und Gegenwart Sachteil, 2. Auflage, Bd. 6, 2, 1426–1440. neubearb. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher Bärenreiter/Metzler, Kassel u. a. 1997
  4. Johann Friedrich Konrad: Wo die Flöte ertönt. Märchen der Völker von Musik, Tanz und Spiel. Gütersloher Verlagshaus, Güterslohn 1984
  5. Leander Petzoldt (Hrsg.): Musikmärchen: Märchen der Welt. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main 1994
  6. a b Dorothée Kreusch-Jacob (Hrsg.): Glöckchen, Trommel, Zaubergeige: Musikmärchen aus aller Welt. Schott Verlag, Mainz 2001
  7. Else Lüders (Hrsg.): Buddhistische Märchen aus dem alten Indien. Eugen Diederischs Verlag, Düsseldorf/Köln 1979, ISBN 3-424-00247-X
  8. Jan-Philipp Sendker: Das Geheimnis des alten Mönches. Märchen und Fabeln aus Birma. Blessing-Verlag, München 1917, S. 163–167. ISBN 978-3-89667-581-1
  9. Sie tanzen nach seiner Pfeife. Volltext
  10. Der Zaubermusikant, Volltext

Literatur

  • Erika Zwanzig: Vertonte Märchen, Mythen, Sagen, Legenden. Musik und Literatur des Abendlandes von den Anfängen bis zur Gegenwart mit kurzer Inhaltsangabe der vertonten Themen A-Z, 2 Bände, Merkel-Verlag, Erlangen 1992
  • Leopold Schmidt: Zur Geschichte der Märchenoper. Deutsche Hochschulschriften, alte Reihe, 1895 (Mikrofiche: Hänsel-Hohenhausen, Egelsbach 1995). ISBN 3-8267-3140-9
  • Matthias Herrmann, Vitus Froesch (Hrsg.): Märchenoper – ein europäisches Phänomen. Schriftenreihe der Hochschule für Musik Dresden, Sandstein-Verlag, Dresden 2007, ISBN 978-3-940319-14-2
  • Gordon Kampe: Topoi, Gesten, Atmosphären – Märchenoper im 20. Jahrhundert. Pfau-Verlag, Saarbrücken 2012, ISBN 978-3-89727-446-4